Nicht alle Wege führen nach Rom
Francesca Salvatore, 35, Oberärztin auf der Abtl. für Innere Medizin im KH Braunau, aus Italien, in Österreich seit 2015
Immer wieder fasziniert mich, wie Menschen Italien aus der Sicht eines Touristen/einer Touristin romantisieren. Alles ist neu, aufregend, jede Statue und jedes Gebäude historisch relevant und jeder noch so simple Hintergrund eignet sich für das perfekte Instagram-Selfie. Pizza und Pasta im Überfluss, überall gut gekleidete Menschen und der Cappuccino, der einem den Tag versüßt, selbst wenn der Preis dafür einen bitteren Nachgeschmack hinterlässt. So weit, so gut. Und ja, Italien hat wirklich einen ganz eigenen Charme. Es lässt sich nicht leugnen, dass es eines der Länder mit den tiefsten kulturellen und historischen Wurzeln ist. Eine Wiege der Menschheitsgeschichte. Einheimische jedoch blicken hinter die antike Fassade und kennen auch die Stolpersteine. An einen dieser Steine bin ich damals selbst geraten, als ich als studierte Medizinerin auf der Suche nach Arbeit war.
Ich bin aus Frosinone, einer charmanten Stadt im Süden Italiens mit rund 45.000 Einwohnern. Sie liegt etwa 75 Kilometer südöstlich von Rom und zeichnet sich durch wunderschöne Landschaften und historische Dörfer aus. Sie hat viele beliebte Sehenswürdigkeiten, weswegen wir jedes Jahr etliche Touristen bei uns begrüßen. In dieser hübschen Stadt bin ich mit meinen Eltern und Geschwistern aufgewachsen. Ich komme aus einer Ingenieursfamilie, in der meine jüngeren Geschwister und mein Vater diesem Beruf nachgehen. Die einzigen Ausnahmen sind meine Mutter, Englischprofessorin, und ich.
Eine berufliche Option wäre damals der Lehrerberuf gewesen, aber ich bezweifelte, dass ich es schaffen würde, mein Leben lang mit pubertierenden Teenagern auszukommen. Weil Biologie eines meiner Lieblingsfächer in der Schule war, überwog daher das Interesse an Medizin, und ich absolvierte das Studium in Rom. Heute weiß ich, dass es die richtige Entscheidung war, denn ich bin sowohl Ärztin als auch Lehrerin, weil ich meine Patient:innen gerne über Vorsorgethemen informiere und ihnen mit Rat und Tat zur Seite stehe. Das macht mich glücklich. Ich mag auch die Intensivmedizin. Sie ist zwar psychisch belastend und mit viel Stress verbunden, aber auch befriedigend, weil wir die Ergebnisse unserer Bemühungen deutlich sehen. Es ist ein Balanceakt zwischen ständigen Adrenalin-Kicks und 24-Stunden-Diensten ohne Schlaf und dem Normalmodus, in welchem man wieder zum 0815-Menschen mit all seinen menschlichen Bedürfnissen wird. Die Tatsache, dass wir mit unserer Arbeit nicht nur unseren Lebensunterhalt verdienen, sondern anderen helfen, wieder gesund zu werden, entschädigt jedoch für viele dieser Belastungen.
Nach dem Studium standen mir nur wenige bis keine Ausbildungsplätze im Krankenhaus in Rom und der Umgebung zur Verfügung, weshalb ich mir überlegen musste, wie es für mich weitergeht. Ich konnte Englisch, weil ich es von klein auf gelernt hatte. Dazu ein paar Brocken Deutsch. Weil das medizinische System im deutschsprachigen Raum besser als im englischsprachigen war, entschied ich mich für diese Option. Im Oktober 2015 besuchte ich ein Monat lang einen Deutschkurs am Goethe-Institut in Mannheim. Danach kam ich über eine Agentur, die Ärzt:innen an österreichische Krankenhäuser vermittelt, nach Wien. Dort habe ich ein halbes Jahr lang eine Schule besucht, um mein Deutsch weiter zu verbessern und bekam durch ebendiese Agentur Hilfe rund um die mühsame Bürokratie. In Steyr habe ich eine Basisausbildung abgeschlossen und dabei viele andere Italiener:innen kennen gelernt. Es war eine schöne Atmosphäre, die ich genossen habe. Auf der Inneren Medizin gab es jedoch keine freien Plätze und so kam ich bei meiner Recherche nach Braunau. Zum Bewerbungsgespräch ging ich damals mit einer recht lockeren Einstellung, weil ich nicht damit rechnete, gleich eine Anstellung zu bekommen. So kam es, dass ich am 31. Mai meine Ausbildung beendet und bereits am 6. Juni eine Arbeit bekommen habe. Es ging so schnell, dass ich mit dem Umzug kaum hinterher kam.
Ich lebe nun seit 2017 in Braunau. Als Italienerin werde ich in der Regel nicht als „Ausländerin“ wahrgenommen. Weil mein Herkunftsland weltweit einen guten Ruf genießt, war es für mich nicht allzu schwer, hier Fuß zu fassen. Das ist ein Luxus, den ich schätze. Dennoch bedeutet das nicht, dass man gleich integriert ist und sich heimisch fühlt. Es gibt nämlich einen Faktor, der in der Integrationsdebatte übersehen wird – das Thema Einsamkeit. Es ist wie ein doppelschneidiges Schwert. Zum einen ist es von großem Nutzen, wenn du niemanden hast, der deine Muttersprache spricht, weil du auf diese Weise gezwungen bist, die neue Sprache zu lernen. Zum anderen sind wir Menschen soziale Wesen und neigen dazu, uns dort heimisch zu fühlen, wo wir etwas Vertrautes vorfinden. Auch nach neun Jahren in Österreich habe ich oft das Gefühl, dass da etwas fehlt. Egal, wie lang meine Arbeitstage sind, ich versuche, mich jeden Abend mit meiner Familie per Video-Chat auszutauschen, fahre an Geburts- und Feiertagen nach Italien und sorge dafür, dass die Italienerin in mir nicht an akutem Heimweh erkrankt. Ich vermisse es, mit anderen Italienisch zu sprechen, denn vieles kann ich nicht 1:1 übersetzen. Weil ich Deutsch immer im medizinischen Kontext verwende, fehlt mir die emotionale Bindung zu dieser Sprache, doch ich arbeite daran.
Neben der Medizin liebe ich Bücher, das Zeichnen und Cartoons. Ich bevorzuge alles, was handgemacht ist – ob Mode, Essen oder Kunst. Ich schätze die Zeit und Liebe, die andere in ihre Produkte investieren. Das ist der „Slow-Living“-Teil in meinem Leben, neben den schnellen, stressigen Nachtdiensten.
Jedem, der neu in diesem Land ist, kann ich nur raten: egal wie viel Überwindung es dich kostet – breche aus aus deinem kulturellen Cluster und geh in die Stadt. Geh bewusst auf Menschen zu und rede drauf los. Du denkst, es ist peinlich, wenn du dich verhaspelst oder ins Stocken gerätst, doch als Italienerin habe ich beispielsweise großen Respekt vor Menschen, die sich Mühe geben, mit mir in meiner Muttersprache zu kommunizieren, selbst wenn die Aussprache nicht so toll und die Vokabeln ganz einfach sind. Dasselbe trifft auch auf Deutsch zu. Der Wille zählt, der Rest kommt von allein.


