Alles zu seiner Zeit…

Meine neue Heimat

In der Serie „Meine neue Heimat“ werden Menschen vorgestellt, die aus verschiedensten Ländern nach Braunau am Inn gekommen sind und hier eine neue Heimat gefunden haben. Die Texte stammen von Mag. Elma Pandžić.

Alles zu seiner Zeit…

Irina Reiter (34), aus Russland, Deutschtrainerin an der Volkshochschule Braunau (derzeit in Karenz), in Österreich seit 2011

Sprachen, fremde Kulturen und Länder haben mich schon immer fasziniert – im Gegensatz zu vielen meiner Landsleute. Samara ist die sechstgrößte Stadt Russlands, und man müsste als Ortsunkundiger annehmen, dass eine Stadt mit mehr als einer Million Einwohnern offen gegenüber Veränderungen sei. Damals war das nicht so, weil die Menschen lange Zeit sehr zurückgezogen gelebt hatten. Erst nach der Perestroika, also der Modernisierung des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systems der Sowjetunion, änderte sich das. Die Öffnung sorgte dafür, dass immer mehr Menschen das Leben außerhalb ihrer Stadt und ihres Landes kennenlernen wollten. In manchen Köpfen änderte sich jedoch nichts. Die Angst vor dem Fremden und das Festhalten an der gewohnten Umgebung spürte auch ich, als ich meiner Familie eröffnete, aus Samara fort zu wollen. Davor hatte ich mithilfe von Privatlehrern Deutsch gelernt und die Pädagogische Universität besucht. Der Abschluss ermöglichte mir, als Lehrerin tätig zu werden, was zu Beginn nicht unbedingt mein Wunschberuf gewesen war. Nach einem Praktikum änderte ich meine Meinung und erkannte, dass ich nicht nur gut mit Kindern umgehen konnte, sondern mit Menschen aller Altersstufen. Ich gab Abendkurse am örtlichen Goetheinstitut – nicht wissend, dass mir all diese Erfahrungen irgendwann von großem Nutzen sein würden. Bei einer Silvesterfeier in Moskau lernte ich meinen Mann kennen, einen Braunauer, der geschäftlich in der Stadt war. Wir konnten uns gut verständigen, da ich Deutsch sprach und wir zur Not auch auf Englisch ausweichen konnten. Weil es für ihn alles andere als einfach gewesen wäre, in so kurzer Zeit Russisch zu lernen und eine Arbeit zu finden, beschlossen wir, nach Österreich zu ziehen. Wir heirateten im November 2011, und nach etlichen bürokratischen Hürden konnte ich in Braunau Fuß fassen. Selbst als Germanistin hatte ich mit dem hiesigen Dialekt Schwierigkeiten. Zudem gestaltete sich die Arbeitssuche als recht mühsam, weswegen mir viele empfahlen, mich umschulen zu lassen.
Zum Glück erfuhr ich über Umwege, dass Deutschtrainerinnen gefragt waren, und so kam ich zu meiner Stelle an der Volkshochschule. Im September 2012 unterrichtete ich meine erste Gruppe und war überglücklich. Das Klima in der Arbeit passte, und auch meine Kollegen und Kolleginnen waren sehr freundlich. Zu Beginn machte mir zu schaffen, dass ich nur eine Sprache hatte, um meinen Kursteilnehmern die Inhalte beizubringen. In Russland konnte ich zusätzlich auf meine Muttersprache zurückgreifen. Diese Einschränkung sorgte allerdings dafür, dass ich sehr kreativ wurde. Ich erfand Spiele und Bewegungsübungen, um den Unterricht aufzulockern und kommunizierte auch mit Händen und Füßen, wenn es die Situation erforderte. Weil einige der Kursteilnehmer Probleme haben, Kontakte zu knüpfen, bin ich als Kursleiterin gefragt, Wege zu finden um diese Barrieren abzubauen. Das gelingt mir ganz gut, weil ich durch meinen Migrationshintergrund die Sorgen und Probleme meiner Kursteilnehmer besser als viele andere verstehe und von ihnen als „Kollegin“ wahrgenommen werde. Als Trainerin unterrichte ich verschiedene Gruppen, am liebsten sind mir allerdings jene auf A1-Niveau. Wenn die Teilnehmer zu Beginn noch kein Deutsch sprechen und sich am Ende mit mir verständigen können, sehe ich in diesen Kursen die größten Fortschritte, und das spornt mich an. Weil ich ehrgeizig bin und mich weiterentwickeln wollte, erwarb ich nebenbei eine Lizenz als Prüferin für das Sprachniveau A1. Derzeit bin ich in Karenz und kümmere mich um meine zwei Kinder, doch ich freue mich darauf, bald wieder in meinem Beruf zu arbeiten.
Wenn ich Österreich und Russland vergleiche, fällt mir eines besonders auf. Die Russen sind sehr spontan und finden immer einen Grund, um zu feiern und das Leben zu genießen. Hierzulande kommen die Menschen schwerer aus sich heraus und planen vieles im Voraus. Beides hat seine Vor- und Nachteile, und so nehme ich mir aus beiden Kulturen jene Dinge mit, die ich als nützlich erachte. Mein Lebensmotto ist: всему своё время (vsemu svoye vremya), was so viel bedeutet wie „Alles zu seiner Zeit“. Ich denke, Geduld ist eine besondere Tugend, weil sie uns im Leben schnell abhandenkommt. Dieses Motto spiegelt sich auch in meinem Hobby, dem Stricken, wider. Es passt so gar nicht zu meinem Temperament, doch gerade das tut mir gut, weil es beruhigend wirkt, genauso wie das Lesen. Englische Klassiker sorgen dafür, dass ich meine Liebe zu Sprachen nicht nur beruflich, sondern auch privat ausleben kann.

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